Chronik des Unwetters im Wallis, 14. – 16.10.2000
(damals Spezialausgabe für www.sinafamily.ch)
Freitag, 13. Oktober 2000
Seit Tagen wüten heftige Regenfälle über dem Wallis. Zwischen Bitsch und Mörel verschüttete ein Erdrutsch bereits die Strassen- und Bahnverbindungen von Brig ins Goms.
Samstag, 14. Oktober 2000
Die Lage im ganzen Wallis ist prekär. Immer wieder werden kleinere Murgänge registriert. Doch von Stunde zu Stunde verschärft sich die Lage. Langsam bahnt sich eine Katastrophe an.
Gondo:
Ein Erdrutsch begräbt einen grossen Teil des das Walliser Dorfes Gondo. Häuser werden wie Spielzeuge weggerissen; mit ihnen auch die Menschen, die darin wohnen. Drei Personen sind zu diesem Zeitpunkt vermutlich tot, 15 werden vermisst. Die sofort anpackenden Helfer, allen voran Roland Squaratti (Gemeindepräsident von Gondo; unter dem Schuttkegel sind zwei seiner Brüder begraben) gebendie Hoffnung auf Überlebende nicht auf. Gondo ist von der Aussenwelt abgeschnitten, auf sich selbst gestellt. Bereits nach kurzer Zeit treffen die ersten Helfer ein. Der Bundesrat hat sofort reagiert und eine Kompanie der Rettungstruppen der Armee nach Gondo geschickt.
Brig:
Ähnlich der Unwetterkatastrophe im September 1993 führt die tobende Saltina Hochwasser, jedoch fliesst durch das Bachbett der Saltina deutlich mehr Wasser als damals. Brig-Glis muss mit all seinen Mitteln gegen die reissenden Fluten ankämpfen. Das Wasser reisst ein Leck in die Ufermauern und in die neue Simplonstrasse. Die Saltinabrücke wird angehoben, zwei weitere Brücken werden entfernt.
Naters:
Die Rhone steigt bedrohlich an. Die Bahnbrücke der Furka-Oberalp-Bahn muss angehoben werden, um den Durchlass des Hochwassers zu gewährleisten und die drohende Gefahr der Geschiebeblockierung abzuwenden..
Visp:
Die Vispa führt Hochwasser, die Landbrücke wird ständig überwacht. Aus Sicherheitsgründen fahren die Lonza-Werke ihre Produktion herunter, lagern gefährliche Güter auf höhere Etagen und evakuieren einen Grossteil der Personals.
Sonntag, 15. Oktober 2000
Nach weiteren sintflutartigen Regenfällen herrscht im Mittel- und Oberwallis der Ausnahmezustand. Ab 1700 Uhr ist das Wallis gänzlich von der Aussenwelt abgeschnitten; alle Seitentäler sind abgeschlossen, teilweise ist die Kommunikation beeinträchtigt. Die Wasserversorgung ist grösstenteils unterbrochen. Der Rotten tritt vielerorts über die Ufer
Die Glückskette Schweiz hat unter dem Postkonto 10-15000-6 (Vermerk «Unwetter Schweiz») ein Spendenkonto eingerichtet. Die Aktion «Oberwallis hilft Oberwallis» sammelt unter dem Konto 19-1206-0 ebenfalls Spenden.Gondo:
Bis am Sonntagabend konnte niemand der noch 13 Vermissten gefunden werden. Bundespräsident Adolf Ogi und Bundesrat Pascal Couchepin besuchen das Katastrophengebiet. Sie zeigen sich erschüttert über die Situation und bieten Hilfe an. Nebst den kantonalen Rettungseinheiten steht auch die Armee für weitere Rettungseinsätze bereit.
Neubrück bei Stalden:
Der Reiterbach reisst mit einer Schlammlawine in Neubrück ein Restaurant samt Wohnung sowie ein weiteres Wohnhaus in die Vispa. Zwei Personen werden vermisst, vier weitere Personen können rechtzeitig in Sicherheit gebracht werden oder sich selber retten. Die Vispa staut sich bedrohlich in Richtung Ackersand.
Baltschieder:
Das Hochwasser des Baltschiederbaches richtet in Baltschieder ein Bild der Verwüstung an. Wie durch ein Wunder kommen hier keine Personen zu Schaden; die Bewohner des Dorfes können glücklicherweise rechtzeitig evakuiert werden.
Mörel:
Ein Haus wird zum Teil weggeschwemmt; mehrere Personen werden evakuiert.
Naters:
Im Quartier Triesta tritt die Rhone über. Der Kelchbach führt enorm viel Wasser; die Feuerwehr und der Zivilschutz verhindern jedoch ein Übertreten der gewaltigen Wassermengen. Die Trinkwasserversorgung wird durch die heftigen Niederschläge unterbrochen. Die Bevölkerung wird vorübergehend mit Wassertanklastwagen versorgt.
Brig:
Die Hochwasserlage in Brig hat sich seit Samstag verschärft, Die tobende Saltina ist kaum zu bändigen. Das Trinkwasser ist nicht mehr geniessbar, die Bevölkerung wird an den Ortsbus-Haltestellen mit Wasser versorgt.
Mattertal:
Zermatt ist von der Aussenwelt abgeschnitten. Es bestehen hier weder Strassen-, noch Bahn-, noch Kommunikationsverbindungen.
Saastal:
Ebenfalls das Saastal ist vollständig auf sich selbst gestellt. Der Pegel des Mattmarkstausees steigt auf eine gefährliche Höhe an. Dank des Schneefalls ist hier die Gefahr jedoch gebannt. Die Stauseen können nun als Schutz vor zusätzlichem Hochwasser eingesetzt werden.
Martigny:
Auf der Strasse oberhalb von Martigny kommt eine 55jährige Frau aus Evionnaz ums Leben, als ihr Auto wurde von den Wassermassen eines Wildbaches mitgerissen wird, der an dieser Stelle über die Strasse donnert.
Fully:
Mehr als 2000 Personen werden evakuiert, deren Haus von Überschwemmungen oder Erdrutschen bedroht ist.
Montag, 16. Oktober 2000
Die Rettungskräfte suchen nach wie vor nach Überlebenden. Die allgemeine Strassensituation im Rhonetal entspannt sich. Der Rhonepegel sinkt um ca. 60 cm, es ist aber keinesfalls von einer Entwarnung im Naturkatastrophengebiet Wallis zu reden!
Gondo:
Die fieberhafte Suche nach Überlebenden geht weiter. Man steht hier zwischen Hoffen und Bangen. Eine Frau wird tot geborgen. Die Rettungskräfte hören aus dem Schuttkegel Hilferufe und Klopfzeichen einer Verschütteten. Trotz intensiver Bemühungen gelingt es den Rettern jedoch bis am späten Abend nicht, die Überlebende zu bergen. Ein Wettlauf mit dem Tod beginnt.
Neubrück bei Stalden:
In Dorénaz bei Martigny findet man in der Rhone die Leiche einer 70jährigen Frau aus Stalden. Sie war nach dem Erdrutsch vom Sonntag in Neubrück vermisst worden. Die zweite Person wird am Sonntag Abend immer noch vermisst.
Baltschieder:
Die Evakuation von 700 Personen wird weiter aufrechterhalten. Tausende von Kubikmetern Geröll und Schutt liegen im alten Dorfteil. Die Aufräumarbeiten werden Wochen bis Monate dauern.
Naters und Brig:
Der Alltag ist weitgehendst wieder eingekehrt. Geschäfte öffnen und die öffentlichen Verkehrsmittel sind wieder in Betrieb.
Mattertal:
Zermatt ist nur per Helikopter erreichbar. Das Trassee der BVZ Zermattbahn ist auf rund einem Drittel beschädigt. Der ordnungsgemässe Bahnebetrieb wird für Monate unterbrochen sein.
Saastal:
Die Verkehrswege sind weiterhin unbefahrbar. Telefonverbindungen sind nur innerhalb des Saastals möglich.
Gampel-Steg:
Die Lonza führt Hochwasser. Sowohl Feuerwehr, als auch der Zivilschutz beteiligen sich an den Aushubarbeiten des Lonza-Bachbetts. Die Strasse Steg – Goppenstein ist gesperrt. Der Autoverlad der BLS Lötschbergbahn bleibt eingestellt.
Dienstag, 17. Oktober 2000
Das Wetter beruhigt sich, erste Sonnenstrahlen dringen durch den grauen Regenhimmel. Das Ausmass der Schäden wird nur langsam sichtbar. Bislang wurden im Wallis seit Sonntag sechs Leichen geborgen, zehn Personen werden immer noch vermisst – neun allein in Gondo. Die Arbeiten konzentrieren sich auf Gondo, Baltschieder, das Saas- und das Mattertal.
Gondo:
Hier werden drei weitere Tote geborgen. Die Opferbilanz des verheerenden Erdrutsches erhöht sich damit auf vier. Weitere neun Menschen werden vermisst. Aus den Trümmern ertönen keine neuen Lebenszeichen mehr.
Baltschieder:
Der Bevölkerung von Baltschieder wird für kurze Zeit erlaubt, staffelweise in ihre Häuser zurückzukehren. Unter Begleitung von Hilfskräften können persönliche Gegenstände und Kleidung geholt werden. Die Betroffenen finden ihr Dorf als deprimierender Anblick der Verwüstung vor.
Neubrück bei Stalden:
Die Suche nach der noch vermissten Person geht weiter. Die Rettungsaktionen laufen auch hier auf Hochtouren.
Brig und Naters:
Das Alltagsleben ist zurückgekehrt. Die Aufräumarbeiten sind in vollem Gange.
Bitsch – Mörel:
Die Verbindung von Brig in Richtung Goms ist unterbrochen. Als Ursache gilt der Erdrutsch bei der Kappelle «Zur hohen Flüe».
Mattertal:
Das innere Nikolaital ist noch immer nur per Helikopter zu erreichen. Die Schäden an der BVZ Zermattbahn erweisen sich als gravierend. Zwischen St. Niklaus und Zermatt wird ein Busbetrieb erstellt. Hunderte von Touristen möchten aus dem Krisengebiet flüchten oder zumindest ihre Angehörigen informieren. Der Kampf um ein Helikopterticket, welches für Fr. 230.– erhältlich ist, beginnt.
Saastal:
Auch das benachbarte Saastal ist von der Aussenwelt abgeschnitten. Jeglicher Kontakt zur Umwelt ist nur über den Luftweg möglich.
Im übrigen Teil des Wallis gehen die Aufräumarbeiten auf Hochtouren weiter. Die Bilanz der Schadensumme beträgt schätzungsweise mehrere Milliarden Franken.
Woche vom 23. Oktober 2000
Das ganze Ausmass der Schäden wird immer weiter sichtbar. Im Rhonetal hat sich das Wasser wieder in das eigene Bett zurückgezogen.
Gondo:
Inzwischen sind hier weitere Tote geborgen worden. In Simplon Dorf fanden bereits erste Beisetzungen statt. Die Bewohner von Gondo wohnen bei Bekannten und Verwandten in Simplon Dorf, wo sie sofort problemlos aufgenommen worden sind. Das Militär hat das Dorf abgeriegelt; der Zu- und Durchgang ist nur mit Passierschein möglich.
Goms:
Die Strasse ins Binntal, ab Montag nur noch nach Imfeld ist weiter gesperrt. Die Furka-Oberalp-Bahn verkehrt nur bis und ab Fiesch. Von Fiesch bis Brig ist ein Busbetrieb eingerichtet. Ansonsten hat sich die Lage normalisiert.
Baltschieder:
Die Bewohner konnten teilweise in ihre Häuser zurückkehren. An der Wiederherstellung der Trinkwasserversorgung wird fleissig gearbeitet. Das Militär hat auch dieses Dorf abgeriegelt; der Zugang ist nur mit Passierschein möglich.
Ich möchte an dieser Stelle den am schlimmsten betroffenen Personen im Wallis mein Mitgefühl aussprechen!
Bitte beachten Sie, dass die Glückskette Schweiz unter der Post-Kontonummer 10-15000-6 (Vermerk «Unwetter Schweiz») weiterhin ein Spendenkonto eingerichtet hat!
Quellen: Recherchen von Richi Amweg; Radio Rottu Oberwallis; SF DRS.
Bilder: Yahoo-Sonderseite
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